Blautopf – Kärtchen für mehr Transparenz

Wir freuen uns sehr, Euch auf unserer Internetseite zu begrüßen! – Bienvenue sur notre site!

(La version française se trouve sous l'accueil en allemand.)

1. Mai – Am Kampftag der Arbeiterklasse wurden traditionell die Ängste des Daseins reflektiert

1. Mai –  Am Kampftag der Arbeiterklasse wurden traditionell die Ängste des Daseins reflektiert Bild von Mlaranda auf Pixabay

Sahra Wagenknecht konstatierte vor einigen Tagen in einem Videobeitrag, „dass die Angst vor dem Virus politisch ausgenutzt wird“. Angsterzeugung und Einschüchtern war schon immer ein Instrument der Herrschaftsausübung und des Machterhalts. Auch wenn das heute der Mehrheit der Bürger längst nicht mehr geläufig ist und sie vielfach gar nicht mehr wahrnehmen, dass und wie sie beherrscht werden. Man kann auch weiter fragen: Was steckt hinter der Angst vor dem Virus?

Nun, deren Wurzel – wie auch die Wurzel so mancher weiteren Ängste – ist die Angst vor dem Tod. Und worin wurzelt die Angst vor dem Tod? – Da niemand von uns weiß, was in seinem/ihrem Tod eigentlich passieren wird – ob das etwas Furchtbares oder vielleicht sogar etwas Angenehmes ist – stellt sich die Ungewissheit, das Ohnmachtsgefühl angesichts von etwas Unvorhersehbarem, Unkontrollierbarem als Wurzel der Todesangst heraus.

Mit dem Unvorhersehbaren und Unkontrollierbaren haben wir es allerdings nicht nur beim Tod zu tun, sondern auf Schritt und Tritt im Leben. Alles, was in dieser Welt der Zeitlichkeit existiert, ist in Bewegung: etwas Altes stirbt, etwas Neues entsteht. Wie die Veränderung verläuft, ist nicht vorhersehbar.

Vielleicht besteht das innere Antriebsmotiv der ganzen Technikentwicklung darin, die Zukunft vorhersehbar machen und unter Kontrolle bringen zu wollen. Auf der Ebene von Alltagsroutinen gelingt dies auch. Wenn ich auf das Bremspedal trete, kann ich mit (fast) absoluter Sicherheit davon ausgehen, dass das Fahrzeug langsamer wird. Wenn ich in einen Zug steige, kann ich mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er mich zum Zielbahnhof bringt.

Durch die Organisation der Gesellschaft wird versucht, den ganzen Lebensablauf vorhersehbar zu machen: Kindergarten – Schule – Berufsausbildung – Berufstätigkeit – Familiengründung – Karriere – Ruhestand – Altersheim – Pflegeheim.

Der Sicherheitsfaktor, wonach das alles auch nach Plan verläuft, ist hier allerdings bedeutend niedriger. – Und an dieser Stelle möchte ich sagen: zum Glück ist er niedriger! Denn die totale Eliminierung der Unvorhersehbarkeit würde das Leben arm machen. Die Ungewissheit ist mit Ängsten verbunden, bringt eben dadurch aber auch Spannung und Intensität ins Leben.

Ein reichhaltiges Leben ist ein abenteuerliches Leben. In der Frühzeit der Menschheit war jeder Tag ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Bei der heutigen Durchorganisation gehen Seelen, die noch eine Ahnung von der Faszination des Abenteuers haben, gezielt auf Gefahrensuche. Sie durchklettern Felswände, fahren Autorennen oder setzen sich auf einem kleinen Segelboot den Ozeanen aus.

Es gibt aber auch noch eine andere Dimension, in der man Gefahr und Abenteuer finden kann: im gesellschaftlichen Zusammenleben! Hier gab es immer den Konflikt zwischen vorwärts und aufwärts drängenden Geistern und der Mehrheit, die sich dadurch in ihren Gewohnheiten und Routinen gestört fühlte.

Um uns hier der aktuellen Situation zuzuwenden: Eigentlich ist es nicht die Bevölkerung, die durch unruhestiftende Geister gestört wird, sondern die herrschende Schicht. Sie hat die Gewohnheiten und Routinen der arbeitenden Bevölkerung, deren Anschauungen und Überzeugungen in eine Richtung gelenkt, die mit ihrer Herrschaft kompatibel ist.

Ein Schlüsselbegriff ist das quantifizierende Denken. Seit der Industrialisierung, seit der Entwicklung der Massenproduktion, wird die Wahrnehmung der konkreten Eigenschaften von Dingen und Produkten, deren Qualität, in den Hintergrund gedrängt. Allenthalben fokusiert sich das Interesse auf Quantitäten: Höhe der Investitionen, Produktionszahlen, Lohnkosten, erzielte Erlöse, Reingewinne. Das Denken in Quantitäten, insbesondere in Geldquantitäten, hat aber auch solche Bereiche überwuchert, die mit einer quantitativen Betrachtungsweise gar nicht erfasst werden können.

Ein kennzeichnendes Beispiel ist das berühmte Buch von Nicholas Stern „The Economics of Climate Change – The Stern Review“, das 2007 erschien. Der Autor unterzieht sich der Mühe, fast 700 Seiten mit der Ermittlung von Kosten zu füllen, die durch den Klimawandel verursacht werden. Seine Absichten sind löblich, denn er kommt zu dem Ergebnis, dass es kostengünstiger sei, den Klimawandel zu stoppen als die Bekämpfung seiner Auswirkungen zu finanzieren.

Doch wie inkommensurabel ist die Zahlen- und Kostenwelt, in der er sich bewegt, mit der Wirklichkeit! – Was ist eine ausgestorbene Tier- oder Pflanzenart „wert“? Auf dem Markt gibt es sie nicht zu kaufen, wie kann man ihr einen „Preis“ zuordnen? - Oder wieviel Geld ist es wert, sich in einem sauberen Fluss treiben lassen zu können? – Mit welchem Geldbetrag ist der Verlust an Grundvertrauen zu bemessen, der einer Bevölkerung widerfährt, deren Behausungen vom Sturm dem Erdboden gleich gemacht wurden? – Derartigem ist jegliche Quantifizierung inadäquat.

Und ein weiterer – für uns noch wesentlicherer – Bereich ist fälschlich der Quantifizierung subsumiert worden: unser Leben selbst! Die Quantität der Jahre, die es umfasst, ist von Interesse. Die Qualität eines Lebens, die Intensität und Vielfalt der in ihm gemachten Erfahrungen, verschwindet aus dem Blickfeld.

Die Corona-Maßnahmen verdeutlichen – wie so manches andere – welches Ausmaß die diesbezügliche Verwirrung schon erreicht hat. Kindern werden Schuldgefühle gemacht: Wenn sie ihre Spontaneität nicht entsprechend den Corona-Einschränkungen unterdrücken, seien sie für das Sterben ihrer Großeltern verantwortlich. – Mit der Behauptung, die Lebenslänge von 80- und 90-jährigen würde um wenige Jahre oder auch nur Monate oder auch nur Wochen ausgeweitet, wird die Qualität des Lebens junger, im Aufbau befindlicher Menschen gravierend geschädigt.

Und wir – das „Christliche Abendland“ – berufen uns auf einen Menschen, der demonstriert hat, dass die Zahl der Jahre gerade kein Maßstab für die Erfülltheit und Bedeutung eines Lebens ist! Jesus war Anfang 30, als er den Tod in Kauf nahm, dem er sich durch Flucht ohne weiteres hätte entziehen können. Doch war es ihm wichtiger, zu dem zu stehen, was er geredet und getan hatte. Ohne seinen spektakulären Tod hätte sein Wirken niemals die weltgeschichtliche Bedeutung erreicht, die es erlangt hat.

Der Sinn unseres Hierseins in einer Welt der Zeitlichkeit, in der sowieso alles von begrenzter Dauer ist, besteht nicht darin, unseren biologischen Körper möglichst lang zu erhalten. Beispiele wie Jesus oder Sokrates haben viele Nachfolger gefunden. Die Erkenntnis „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“ (Friedrich Schiller) ist sogar in die Volksweisheit eingegangen. Sie entbindet von allen unsinnigen und nur auf Unterwürfigkeit zielenden Vorschriften. Das eigene Gewissen als den Souverän zu leben, schafft ein köstliches Gefühl von Befreiung.

Ganz ähnlich sagte es auch die Arbeiterbewegung:

„Wir haben beschlossen, nunmehr schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod“.

In diesem Sinn: Guten 1. Mai!

Verweise:
Sahra Wagenknecht: „Nicht einschüchtern lassen!“
SWR Tele-Akademie: Angst und Macht, Vortrag von Rainer Mausfeld
Vollständiges Zitat von Friedrich Schiller:
Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel größtes aber ist die Schuld.


Gelesen 1325 mal