Deutschlands Versklavung durch seine Vergangenheit hat es viel zu lange zum Schweigen über Gaza gebracht

Deutschlands Versklavung durch seine Vergangenheit hat es viel zu lange zum Schweigen über Gaza gebracht Screenshot Globalbrigde/BBC

Ja, Christian Müller, Herausgeber von Globalbridge, hat recht: Dieser Text von Gideon Levy ist ein Muss!

Weswegen ich ihn unbedingt auf Blautopf veröffentlichen muss. Herzlichen Dank an Christian Müller für seine Zusage für das Posten auf Blautopf!

(Red.) Nicht zum ersten Mal ist es für Globalbridge ein – nennen wir es „moralisches“ – Muss, einen Kommentar des israelischen Journalisten Gideon Levy zu übersetzen und zu veröffentlichen. Levy, dessen Eltern 1939 vor den deutschen Nazis aus Böhmen nach Israel geflüchtet sind, beleuchtet hier die heutige deutsche Politik gegenüber Israel. (cm)

Deutschland hat das Andenken an den Holocaust und seine Lehren verraten. Ein Land, das es als seine höchste Aufgabe ansah, nicht zu vergessen, hat vergessen. Ein Land, das sich selbst versprochen hat, niemals zu schweigen, schweigt. Ein Land, das einst „Nie wieder“ sagte, sagt nun ‚wieder‘, mit Waffen, mit Geld, mit Schweigen. Kein Land sollte besser darin sein als Deutschland, „widerwärtige Prozesse zu erkennen“. Jeder Deutsche weiß viel mehr darüber als Yair Golan. Hier in Israel sind sie in vollem Gange, doch Deutschland hat sie noch nicht als das erkannt, was sie sind. Erst kürzlich ist es zu spät und zu wenig aufgewacht.

Wenn Deutschland den Flaggenmarsch in Jerusalem sieht, muss es die Reichspogromnacht sehen. Wenn es die Parallelen nicht sieht, verrät es die Erinnerung an den Holocaust. Wenn es auf Gaza blickt, muss es die Konzentrationslager und Ghettos sehen, die es selbst errichtet hat. Wenn es die hungernden Menschen in Gaza sieht, muss es die elenden Überlebenden der Lager sehen. Wenn es die faschistischen Äußerungen israelischer Minister und anderer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens über Mord und Bevölkerungsaustausch, über „keine Unschuldigen“ und über das Töten von Babys hört, muss es die erschreckenden Stimmen aus seiner Vergangenheit hören, die dasselbe auf Deutsch gesagt haben.

Es hat kein Recht zu schweigen. Es muss die Fahne des europäischen Widerstands gegen das, was im Gazastreifen geschieht, hochhalten. Doch es hinkt weiterhin hinter dem Rest Europas hinterher, wenn auch unbequem, nicht nur wegen seiner Vergangenheit, sondern auch wegen seiner indirekten Verantwortung für die Nakba, die ohne den Holocaust wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte. Deutschland hat auch eine teilweise moralische Schuld gegenüber dem palästinensischen Volk.

Ohne die Unterstützung der USA und Deutschlands hätte es die israelische Besatzung nicht gegeben. Während dieser ganzen Zeit galt Deutschland als Israels zweitbester Freund. Es war inklusiv und bedingungslos. Jetzt wird Deutschland für seine langen Jahre der strengen Selbstzensur bezahlen, in denen es verboten war, Israel, das heilige Opfer, zu kritisieren.

Jede Kritik an Israel wurde als Antisemitismus abgestempelt. Der gerechte Kampf für die Rechte der Palästinenser wurde kriminalisiert. Ein Land, in dem ein großes Medienimperium (Springer, Red.) von seinen Journalisten als Bedingung für ihre Anstellung verlangt, niemals Israels Existenzrecht in Frage zu stellen, kann nicht behaupten, die Meinungsfreiheit zu achten. Und wenn Israels derzeitige Politik seine Existenz gefährdet, sollte man dann nicht das Recht haben, es zu kritisieren?

In Deutschland ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Israel zu kritisieren, egal was es tut. Das ist keine Freundschaft, das ist Versklavung gegenüber einer Vergangenheit, und angesichts der Ereignisse in Gaza muss das ein Ende haben. Die „besondere Beziehung“ kann keine Billigung von Kriegsverbrechen beinhalten. Deutschland hat kein Recht, den Internationalen Strafgerichtshof, der als Reaktion auf seine Verbrechen eingerichtet wurde, zu ignorieren, indem es darüber debattiert, wann es einen wegen Kriegsverbrechen gesuchten israelischen Ministerpräsidenten einladen soll. Es hat kein Recht, die Klischees der Vergangenheit zu wiederholen und Blumen in Yad Vashem niederzulegen, 90 Autominuten von Khan Yunis entfernt.

Deutschland steht nun vor seiner schwersten moralischen Prüfung seit dem Holocaust. Wenige Wochen nach dem Einmarsch Wladimir Putins in die Ukraine war es Deutschland, das die Sanktionen gegen Russland anführte. Zwanzig Monate nach der Invasion des Gazastreifens hat Deutschland noch immer keine Maßnahmen gegen Israel ergriffen, abgesehen von den gleichen Lippenbekenntnissen wie andere europäische Länder.

Deutschland muss sich ändern, nicht trotz seiner Vergangenheit, sondern gerade wegen ihr. Es reicht nicht aus, dass Bundeskanzler Friedrich Merz sagt, dass die Bombardierung des Gazastreifens nicht mehr zu rechtfertigen sei. Er muss Maßnahmen ergreifen, um sie zu stoppen. Es reicht nicht aus, dass Außenminister Johann Wadephul sagt, dass Deutschland sich nicht „in eine Lage bringen lassen wird, in der wir Zwangssolidarität zeigen müssen“.

Es ist Zeit, dass Deutschland sich mit den Opfern solidarisch zeigt und sich von den Fesseln der Vergangenheit befreit, die es von den Lehren des Holocaust entfremden. Deutschland kann nicht weiter tatenlos zusehen und sich mit halbherzigen Verurteilungen begnügen. Angesichts der schrecklichen Lage in Gaza ist dies Schweigen – das schändliche Schweigen Deutschlands.

Zum Originalartikel von Gideon Levy auf Haaretz.

PS: 82% der Israelis befürworten eine Vertreibung der Palästinenser aus Gaza


Quelle:

Globalbridge • Deutschlands Versklavung durch seine Vergangenheit hat es viel zu lange zum Schweigen über Gaza gebracht

Untertitel des Titelbildes auf Globalbridge:

"Was hat dieses Baby Unrechtes getan, dass es jetzt Hungers sterben muss? (Screenshot aus einem Video, das BBC News veröffentlicht hat.)"

Aktiv werden gegen das Elend in Gaza


Noch eine Anmerkung: Beim Suchen nach dem o.g. Video von BBC News stoß ich auf diese Reportage von BBC World Service: One year of war in Gaza: Life, death, and hope.

Ich hoffe, auch sie wird für viele eine Motivation zum Aktivwerden sein, zumal sie bereits sieben Monate alt ist und das Leiden dort hat sich um einiges verschlimmert.

  


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