Israel, möge Gott dein Herz und deine Fäuste erweichen

Israel, möge Gott dein Herz und deine Fäuste erweichen "This isn’t a war on Hamas. It’s a war on the Palestinian people."/ www.jewishvoiceforpeace.org

Der am 7.10.2023 erneut entflammte Israel-Palästina-Krieg zeigt, dass die Menschheit einer tiefen Erlösung bedarf. Das Therapeutikum dafür ist der durch seine Menschlichkeit heilende Geist der Bergpredigt, verdichtet dargelegt in Mt 5,39: "Leistet dem Bösen keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!". Dieser überliebt den Irrtum des "Auge um Auge".

Veröffentlichung dieses Textes mit freundlicher Genehmigung des Autors, Sergej Perelman.

Als Motto für den anschließenden Kommentar dient ein Auszug aus einem Gebet der Rabbinerin Alissa Wise, das sie ihm Rahmen ihres Engagements im Rabbiner-Rat bei Jewish Voice for Peace (JVP) am 8. Oktober 2023 veröffentlicht hat. JVP ist eine Vereinigung von US-amerikanischen Juden, die sich für Frieden, Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde für Israelis und Palästinenser einsetzt. Das Gebet wurde als Zusatz unter einem Artikel mit der Überschrift: "JVP-Rabbiner-Rat: 'Wir rufen zum sofortigen Ende der Gewalt auf'" veröffentlicht. Alissa Wise betet:

"Möge der EINE, der sehr lange benötigt, bis er zürnt, unsere Herzen und unsere Fäuste erweichen und uns dabei helfen, das Schwert selbst auf dem Höhepunkt unseres Zorns niederzulegen".(1)

Der Angriff der Hamas bestätigt nur abermals, dass weder Sicherheitszäune, noch das Militär, noch Waffen echte Sicherheit und wahren Frieden für uns Menschen herstellen können! Das gilt für alle Regionen der Welt, für alle Völker der Erde, für alle Zeiten! "Nur im Frieden bewahren wir uns selber", heißt, dass nur derjenige, der den Mut, das Vertrauen und die Güte aufbringt, im Geiste der Bergpredigt Jesu keine Waffe in die Hand zu nehmen und nicht zurückzuschlagen, fähig ist, Frieden zu schaffen. Nur so einer bewahrt sich als Mensch und erkennt hinter der Bosheit und Grausamkeit des Anderen, die aus Unglück, Not, Verlorenheit, Verzweiflung... entstehen, den Menschen, seinen Bruder, seine Schwester.

Denn das Böse an sich ist stets eine Erscheinung, die im Hintergrund auf bestimmte Ursachen und Umstände zurückzuführen ist. Diese gilt es zu erkennen, zu verstehen und aufzulösen. Wichtig an dieser Stelle ist, zu betonen, dass es bei diesem Standpunkt niemals um eine Rechtfertigung jedweden Bösen geht, sondern um die Überwindung jenes Phänomens durch Güte, Verstehen, Bewusstmachen und Durcharbeiten seiner verborgenen Kausalitäten. Dafür muss man die Gründe und die Geschichte seines Gegenübers verstehen, anders ist es nicht zu machen.

Man kann das Böse nur durch das Gute überwinden, anderenfalls, wenn wir Hass, Rache- und Vergeltungsreflexe, Zorn und Angst in unser Herz lassen und zu Waffen und Gewalt greifen, werden wir selber noch schlimmer als das Schlimme, das wir besiegen wollen, und anstatt das Böse zu überwinden vermehren und steigern wir es durch das eigene Fühlen, Denken und Tun und geben dem Anderen die Legitimation, genauso weiterzumachen wie bisher: in der archaischen Logik aus Angst und Rachereflexen, die das Böse, das Leid und die Not auf beiden Seiten ins Unermessliche und Unkontrollierbare treiben.

Es gibt für uns Menschen eben nur einen Ausweg. Wir finden ihn vorgezeichnet in der Bergpredigt Jesu, konzentriert in Mt 5, 39. Israel wird nur dann Frieden schaffen können, wenn es statt massive militärische Vergeltungsschläge durchzuführen, sich fragen würde, was die Gründe dafür sind, dass die Hamas und andere radikale palästinensische und libanesische Gruppierungen diese Brutalität, Grausamkeit und das Blutvergießen nach Israel tragen. Wie sind diese Kämpfer zu denen geworden, was sie heute sind? Welche Motive, Gefühle, Gedanken – ja, welche psycho-sozialen Umstände und welche Geschichte haben sie so werden lassen?

Die Kämpfer der Hammas, der Hisbollah u.a. sind doch nicht als solche zur Welt gekommen. Welche Mitverantwortung trägt die israelische Innen- und Außenpolitik dafür, dass sie zu Terroristen wurden? Aufschlüsse darüber gibt ein aktueller Kommentar unter der Überschrift "Unterdrückung ist die Wurzel der Gewalt" von Voice for Peace, einer Vereinigung von US-amerikanischen Juden, die sich für Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden, Gleichheit und Würde für Israelis und Palästinenser einsetzen.

Voice for Peace konstatiert:

"Seit 16 Jahren erstickt die israelische Regierung die Palästinenser in Gaza unter einer drakonischen militärischen Luft-, See- und Landblockade, indem sie zwei Millionen Menschen einsperrt, hungern lässt und ihnen medizinische Hilfe verweigert. Die israelische Regierung massakriert regelmäßig Palästinenser in Gaza; Zehnjährige, die in Gaza leben, wurden in ihrem kurzen Leben bereits von sieben großen Bombenangriffen traumatisiert."(2)

Diese und die folgende Analyse der Verhältnisse der Palästinenser bestätigt auch der renommierte deutsche Nahostexperte Michael Lüders in seinem neuesten Kommentar, der unten verlinkt ist.(3)

"Seit 75 Jahren hält die israelische Regierung eine militärische Besetzung der Palästinenser aufrecht und betreibt ein Apartheidregime. Palästinensische Kinder werden bei Razzien vor Tagesanbruch von israelischen Soldaten aus ihren Betten gezerrt und ohne Anklage in israelischen Militärgefängnissen festgehalten. Palästinenserhäuser werden von Mobs israelischer Siedler in Brand gesteckt oder von der israelischen Armee zerstört. Ganze palästinensische Dörfer sind zur Flucht gezwungen und verlassen ihre Häuser, Obstgärten und das Land, das seit Generationen im Besitz ihrer Familie war", heißt es weiter im Kommentar von Voice for Peace.(4)

Auch die geopolitische Ebene will aufgrund der Komplexität der Realität berücksichtigt werden. Dazu heißt es in derselben Analyse:

"Das Blutvergießen von heute und den letzten 75 Jahren geht direkt auf die Mitschuld der USA an der Unterdrückung und dem Schrecken, die durch die militärische Besatzung Israels verursacht wurden, zurück. Die US-Regierung ermöglicht konsequent israelische Gewalt und trägt die Schuld für diesen Moment. Die unkontrollierte Militärfinanzierung, die diplomatische Deckung und die privaten Gelder in Milliardenhöhe aus den USA ermöglichen und stärken das israelische Apartheidregime. Diejenigen, die weiterhin eine 'eiserne' Unterstützung der USA für das israelische Militär fordern, ebnen nur den Weg zu mehr Gewalt."(5)

Um es hier dreifach zu unterstreichen: Die Suche nach den Gründen von Gewalt und Grausamkeit ist bei der hier vertretenen Position im Geiste der Bergpredigt Jesu nie als eine Rechtfertigung jeglicher Form von Gewalt, Terror und Krieg zu verstehen, sondern als das genaue Gegenteil davon: der einzige Weg zum Frieden, weil man nicht zurückschlägt, weil man das Böse nicht in sein Herz lässt, weil man den Anderen nicht als Feind betrachten will, um nicht noch grausamer und brutaler zu werden als das Gegenüber. Man bewahrt seine Menschlichkeit, indem man in Vertrauen und Güte die eigentlichen Ursachen für die Bosheit des Anderen begreifen und gewaltfrei auflösen will – das ist Mt 5, 39.

Tatsächlich wird ein solcher Geist und eine solche Haltung, wie oben beschrieben, heutigentags im Friedensappell von 27 Menschenrechtsorganisationen vertreten, die in Israel und Palästina aktiv sind und für die überwiegend Israelis und Palästinenser arbeiten. Dort heißt es:

"Auch jetzt – besonders jetzt – müssen wir unsere moralische und menschliche Position bewahren und uns weigern, der Verzweiflung oder dem Drang nach Rache nachzugeben. Es ist wichtiger denn je, unseren Glauben an den menschlichen Geist und die ihm innewohnende Güte aufrechtzuerhalten. Eines ist klar: Wir werden unseren Glauben an die Menschlichkeit niemals aufgeben – auch nicht jetzt, wo dies schwieriger ist denn je."(6)

Folgende politischen Forderungen stellen die Menschenrechtler in Israel und Palästina:

"Wir fordern die sofortige Freilassung aller Geiseln und ein Ende der Bombardierung von Zivilisten in Israel und im Gazastreifen. Humanitäre Hilfe muss die Zivilbevölkerung erreichen, medizinische Einrichtungen und Zufluchtsorte dürfen nicht beschädigt werden und lebenswichtige Ressourcen wie Wasser und Strom dürfen nicht abgeschnitten werden. Die Tötung zusätzlicher Zivilisten wird die Verstorbenen nicht zurückbringen. Willkürliche Zerstörung und eine Belagerung, die Unschuldigen schadet, werden weder Erleichterung, Gerechtigkeit noch Ruhe bringen."(7)

Darüber hinaus fordern sie auch:

"Als Einzelpersonen, die sich für die Förderung der Menschenrechte einsetzen und an die Heiligkeit des Lebens glauben, fordern wir dringend ein Ende aller willkürlichen Schäden am Leben und an der Infrastruktur von Zivilisten. Wir fordern Verhandlungen und alle möglichen Maßnahmen, um die Freilassung der Geiseln herbeizuführen – wobei wir den von der Hamas festgehaltenen Zivilisten Vorrang einräumen. Es ist das einzig Humane und Vernünftige, und es muss jetzt getan werden."(8)

Ein sehr beeindruckendes Beispiel dafür, dass der Geist der Bergpredigt Wirklichkeit werden kann, ist auch die tragische Geschichte des palästinensischen Arztes und Friedensaktivisten Izzeldin Abuelaish, der inzwischen in Kanada lebt, der 2009 bei einem Panzergranateneinschlag der Israelis in sein Haus in Gaza drei seiner Töchter verloren hatte. Er sah die zerfetzten Körper seiner Töchter vor sich liegen. In einem Interview kurz danach sagte er: "Ich werde nicht hassen!" – so lautet auch der Titel seines gleichnamigen Buches.(9)

Anders ist Frieden nicht zu haben, denn Sicherheit ist nur möglich als die Sicherheit des Anderen. Wann fühlt sich der Andere sicher? Wenn ich ihn nicht bedrohe? Wann bedrohe ich ihn nicht? Wenn ich keine Waffen und keine Armee habe, dann ist er bereit, es mir gleichzutun, weil er sich nicht mehr vor mir fürchten muss. Denn eine Waffe ist nur Ausdruck meiner Angst vor dem Anderen. Sie macht jedoch dem Anderen Angst und er wiederum reagiert mit Angst, indem er sich auch eine Waffe beschafft, die noch tödlicher ist. Das löst wiederum Angst bei mir aus und ich vergrößere mein Waffenarsenal – Angst und Angstverbreitung ist das, was aktuell als Sicherheitspolitik gilt.

Doch es ist genau das Gegenteil davon, was sie vorgibt zu sein – diese Politik zementiert einen permanenten Zustand der Unsicherheit, Bedrohung und führt schließlich zum Krieg. Das hatte Immanuel Kant (1724 - 1804) in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" (1795) schon klar vor Augen und betrachtete deswegen die Abschaffung von Armeen als einen notwendigen Schritt zum ewigen Frieden. Noch ausführlicher und umfassender ist der oben skizzierte Standpunkt im Buch des Theologen, Psychoanalytikers und Schriftstellers Dr. Eugen Drewermann „Nur durch Frieden bewahren wir uns selber. Die Bergpredigt als Zeitenwende“ nachzulesen – ein Muss für alle, die an echtem Frieden interessiert sind.(10) Unten ist auch sein gleichnamiger Vortrag verlinkt.(11)

Über den Autor: Sergej Perelman, gebürtig aus Kiew, ist freier Journalist und Friedensaktivist. Dieser Artikel erschien zuerst am 19.10.2023 auf European News Agency. Für Rückmeldungen ist Sergej Perelman unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! erreichbar. Alle Übersetzungen der englischen Texte stammen vom ihm.
 

Quellen und Verweise:
1) https://www.jewishvoiceforpeace.org/2023/10/rabcab10-08/
(2,4,5) https://www.jewishvoiceforpeace.org/2023/10/statement23-10-07/
(3) https://www.youtube.com/watch?v=ONeDDZNb8Ks
(6-8) https://www.btselem.org/press_releases (12. Oktober, Überschrift: "Human Rights Organizations raise a loud and clear voice against the harming of all innocent civilians'")
(9) https://www.merkur.de/politik/weihnachten-versoehnung-nahost-gaza-palaestina-israel-arzt-toechter-izzeldin-abuelaish-news-zr-91994559.html
(10) https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/nur-durch-frieden-bewahren-wir-uns-selber-011428.html
(11) https://www.youtube.com/watch?v=-mweph5saoQ

 


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