Ukraine – Wie konnte es so weit kommen?

Ukraine – Wie konnte es so weit kommen? Bild von elen31 auf Adobe Stock

Russland ist in die Ukraine einmarschiert und die westlichen Politiker bereiten den Krieg vor – militärisch oder wirtschaftlich.

Doch die Gefährlichkeit dieser Situation scheinen sie massiv zu unterschätzen.

Krieg fängt immer damit an, dass der andere zurückschießt.

Mit dem aggressiven und völkerrechtswidrigen* Einmarsch Russlands ist es zu einem neuen Höhepunkt in der ukrainischen Tragödie gekommen. Der dort im Osten des Landes seit nunmehr acht Jahren andauernde Krieg breitet sich damit über weitere Teile der Ukraine aus. Er wird noch mehr Tod und Leid bringen, vor allem aber auch einen Hass erzeugen, der über Generation bestehen bleiben kann.

Bis jetzt hatte Putin immer einen kühlen Kopf bewahrt und versucht den politischen Kurs des Westens durch seine durchdachten und pointierten Reden zu beeinflussen, in denen er oft um eine Zusammenarbeit mit Russland warb. Damit war er allerdings meist erfolglos: Die Nato erweiterte sich gen Osten und die politische Mauer zu Russland wuchs.

Dass das nicht ewig gut gehen würde, war vorauszusehen und vielleicht sogar gewollt. Die Zähne hat Putin dann das erste Mal mit dem Anschluss der Krim an Russland gezeigt, was entgegen der Behauptung vieler Medien keine "Annexion" war und ob dabei das Völkerrechtes gebrochen wurde, ist zumindest sehr strittig.

Es war vor allem ein geschickter Schachzug, diesem Gebiet – sollte es sich unabhängig von der Ukraine erklären – den Schutzmantel Russlands anzubieten, wo doch die große Mehrheit der Bevölkerung unbedingt von der Ukraine weg wollte.

Und gerade das zeigt das dahinter liegende ukrainische Problem. Mit dem (möglicherweise auf Betreiben der USA zustande gekommenen) Umsturz beim Euro-Maidan hat die Ukraine nicht nur eine westlich orientierte Führung bekommen, sondern auch eine Regierung mit Beteiligung militanter nationalistischer Gruppen mit rechtsradikalen Flügeln. Das ist an sich schon unschön, aber die Ukraine ist dazu noch ein Vielvölkerstaat, in dem neben den indigenen Ukrainern einige Gruppen fremder Nationalität wie z.B. Russen, Polen und Ungarn leben, die sich unter dieser Regierung verständlicherweise sehr unwohl fühlen.

So hat die Ukraine seit Mai 2021 ein Gesetz zum Schutz von indigenen Minderheiten, das den "nativen Ukrainern" Schutz und Förderung von Kultur und Bildung zusagt. Klingt zunächst gut, wird aber von Ukraine-Kritikern gerne als "Rassengesetz" bezeichnet, da es für die Minoritäten fremder Nationalität keine entsprechenden Rechte gibt [1]. Pikanterweise wurde kurz zuvor auch ein "Sprachengesetz" eingeführt, das im Dienstleistungsbereich die ukrainische Sprache obligat macht und dessen Einhaltung kontrolliert wird [2].

Zur Stabilität dieses ohnehin schon gespaltenen Landes, das die Aggressionen der pro-russischen wie auch der pro-westlichen Seiten beim Euro-Maidan noch lange nicht überwunden hat (z.B. [3]), trägt dies sicher nicht bei. Verschlimmert aber wird es dadurch, dass sich westliche Kräfte gerade diese Situation zunutze macht, wie es der britische Russland- und Ukraine-Kenner Professor Richard Sakwa beschreibt:

"Der erste Faktor ist also, dass es in der Ukraine eine stark mobilisierte, radikalisierte Minderheit gibt, die die Politik in Geiselhaft hält. Zweitens wird diese Minderheit – auch wenn über einige ihrer abscheulicheren Ausprägungen [gemeint sind offensichtlich die Neonazi, Red.] geschwiegen wird – geopolitisch von den westlichen Mächten unterstützt, von dem, was ich das atlantische Machtsystem nenne. Es ist nicht nur die NATO, sondern – und das ist meiner Meinung nach ein Skandal – auch die Europäische Union, die ihre eigenen Prinzipien nicht wirklich eingehalten hat." [4]

Putin hatte dadurch bei der Krim wie später auch beim Donbass leichtes Spiel.

Der Anschluss des Donbass

Überschlagen sich nun die Medien mit Meldungen wie "jetzt herrscht Krieg in der Ukraine", so ist ihnen anscheinend entgangen, dass sich die ostukrainischen Regionen seit acht Jahren in einem Kriegszustand befinden mit tausenden Toten, Vertreibung und Leid. Zwar hat es mit dem Minsker Abkommen 2015 einen Maßnahmenkomplex zur Befriedung der Ostgebiete gegeben, doch wurde dieser nie umgesetzt.

Putin führt die Befriedung und den Schutz dieser Gebiete und der russischen Bevölkerung als Grund an, die Unabhängigkeit der Regionen Donezk und Lugansk anzuerkennen. Aber hinter dieser Begründung wird es wohl eine Reihe anderer innen- und außenpolitischer Ziele geben, die ihn zu diesem Schritt verleitet haben. Seine Bedenken um die Sicherheit Russlands in Bezug auf die immer näher rückende Nato hatte er bereits mehrfach geäußert und eine Garantie gefordert, dass die Ukraine neutral bleibe. Damit dürfte er auch innenpolitisch unter Druck stehen und muss dem Westen zeigen, dass er sich nicht länger hinhalten lassen will.

Doch die Vorgeschichte des Angriffs Russlands auf die Ukraine geht letztlich zurück bis zum Ende des kalten Krieges. Hier hat man Russland – das ja einseitig den Warschauer Pakt aufgelöst hat – zugesagt, die Nato nicht nach Osten zu erweitern [5,6]. Doch Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Albanien, Kroatien und Nordmazedonien sind die Länder, die aus den ehemaligen Ostgebieten dann doch dazugekommen sind [7]. Mit den baltischen Staaten reicht die Nato bis an die russische Grenze und u.a. hier führte sie 2021 die Militärübung Defender Europe 2021 mit ca. 30.000 Soldaten durch [8].

Russland als Großmacht auch nach Ende der sozialistischen Ära ernst zu nehmen und die Grenzgebiete zu Russland als "neutralen" Gürtel nach dem Vorbild Österreichs zu lassen, das wäre ein guter Ansatz gewesen. Doch heute will die NATO nicht einmal auf die Mitgliedschaft der Ukraine verzichten.

Die unterschätzte Gefahr

"Meiner Meinung nach ist die gegenwärtige Situation also viel gefährlicher, weil es nur ein paar wenige mutige Menschen gibt, die sie verurteilen. Ich freue mich, dass sich das 'Quincy Institute for Responsible Statecraft' entwickelt hat; es gibt ein paar Leute in den Vereinigten Staaten, allerdings schockierend wenige im Vereinigten Königreich – und ich denke, das Blatt hat sich auch in Deutschland gewendet, vor allem bei den Grünen, die nur Clintonsche liberale Interventionisten der schlimmsten Sorte sind: Falken des Kalten Krieges." [4]

In dem Interview "Moskau könnte beginnen, das zu tun, was der Westen ihm vorwirft" [9] beschreibt Dmitri Trenin, der Direktor des "Carnegie Moscow Center", dass Russland sich an einem Wendepunkt befinden könnte. Alternativ zu der westorientiereten Politik, die das Land seit dem Mauerfall betreibt, könnte es zu einer weitgehenden Abkehr vom Westen kommen.

Russland würde dann eine aggressivere Außenpolitik betreiben und viel stärker auf die Kooperation mit China, dem Iran und Südamerika setzen – Staaten also, die selber unter der US-Hegemonie leiden (und durchaus Interesse an russicher Waffentechnik hätten). Noch ist Russland offen für Verhandlungen, aber der Angriff auf die Ukraine könnte als Vorbote eines solchen Kurswechsels gedeutet werden.

Eigentlich lehrt uns die Geschichte, dass Gewalt nur weitere Gewalt erzeugt. Jetzt also mit Waffenlieferungen an die Ukraine und militärischer Unterstützung zu reagieren, ist wohl der schlechteste Weg, den man beschreiten kann. Das einzig Sinnvolle in dieser verfahrenen Situation wäre sofort in Verhandlungen zu treten. Doch gerade daran scheint der Westen nicht interessiert zu sein, hört man sich die markigen Sprüche von Aufrüstung, Sanktionen und der "Vernichtung der russischen Wirtschaft" an.

Dabei wäre sicher die Worst-Case-Situation ein militärischer Schlagabtausch mit Russland. Putin selber hat jüngst hervorgehoben, dass Russland eine Nuklearmacht sei – und ein in die Ecke gedrängter Hund könnte durchaus beißen.

Doch auch ein Wirtschaftskrieg könnte fatal sein: Während Putin in den letzten Jahren den Umgang mit Sanktionen üben konnte, ist Europa unvorbereitet. Alleine Deutschland bezieht die Hälfte seines Gases aus Russland. Ein Ausfall dürfte mit amerikanischem Fracking-Gas so schnell nicht zu kompensieren sein; abgesehen von der noch größeren Abhängigkeit von den USA könnte der nächste Winter also kalt werden. [10]

Wahrscheinlich sind deutliche Preissteigerungen, die zu einer Inflation führen und eine Rezession induzieren könnten. Was vielen, die nach Sanktionen rufen, nicht bewusst (oder einfach egal) ist, bringt Oskar Lafontaine auf den Punkt:

"Sanktionen treffen nicht Putin und seine Oligarchen, sondern verschlechtern das Leben der Russen und Ukrainer und vieler Menschen in anderen Ländern, die von dem Wirtschaftskrieg betroffen sind – auch der Menschen in Deutschland mit geringerem Einkommen, die schon jetzt ihren Sprit und ihre Heizkosten kaum noch bezahlen können. Die Kriegshetzer in Politik und Journalismus können höhere Energiepreise verkraften. Viele Menschen in Deutschland aber nicht. Und auch die richtigen Beschlüsse** der Bundesregierung vom gestrigen Tage reichen nicht aus, um zu verhindern, dass viele Menschen große Schwierigkeiten haben, ihr tägliches Leben zu finanzieren." [11]

Egal also, ob man Putin oder dem Westen die Verantwortung für die Krise gibt, die sich gerade in der Ukraine manifestiert. Jetzt gilt es, so schnell wie möglich an den Verhandlungstisch zurückzukehren, bevor noch schlimmeres passiert.

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* Dazu hat eine Leserin Folgendes angemerkt:

"Der o. g. Artikel enthält eine Falschaussage. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist nicht völkerrechtswidrig. Nach § 51 Abs. 3 der UN-Charta darf ein solcher Angriff in Selbstverteidigung erfolgen. Die entstehenden Republiken dürfen dabei auch VOR Abschluss entsprechender Referenden in Selbstverteidigung handeln und sie dürfen dabei von anderen Ländern unterstützt werden. Ebenso darf die russische Föderation in Selbstverteidigung die Ukraine angreifen, wenn dort ein Angriff auf Russland vorbereitet wurde oder militärische Infrastruktur zu nah an der russischen Grenze platziert wird. Für beides werden die Russen noch die Beweise liefern müssen, aber solange nicht klar ist, dass es keine gibt, ist der Angriff nicht zu verurteilen. Allenfalls darf man von einem mutmaßlich völkerrechtswidrigen Angriff sprechen, der völkerrechtswidrig wird, wenn entsprechende Separationsreferenden scheitern und die Ukraine nachweislich keine militärische Infrastruktur nahe der russischen Grenze hatte."

** Dieser Punkt ist obsolet, zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung wollte die Regierung keine Waffen an die Ukraine liefern.

Quellen und Verweise:
[1] Anti-Spiegel • Neues Gesetz teilt Ukrainer nach völkischen Kriterien ein
[1b] UngarnReal • Menschen erster und zweiter Klasse
[2] Anti-Spiegel • Was bedeutet das neue Sprachengesetz
[2b] DerStandard • Ukrainisches Parlament beschließt gesetz gegen russische Sprache
[3] Wikipedia • Ausschreitungen in Odessa
[4] InfoSperber • Bidens Eskalation mit Russland ist ein entsetzliches Konzept
[5] Der Spiegel • "Eiserne Garantien", Nr.7 12.2.2022
[6] Der Spiegel • Nato-Osterweiterung - Aktenfund stützt russische Version
[7] Wikipedia • Nato
[8] Euractiv • Large Scale Military Exercises around Serbia until Summer
[9] InfoSperber • Moskau könnte beginnen, das zu tun, was der Westen ihm vorwirft
[10] Statista • Anteil der russischen Gasimporte am inländischen Gasverbrauch
[11] NDS • Krieg ist kein Mittel der Politik
[12] InfoSperber • Krieg ist Krieg, es gibt nichts schlimmeres


Gelesen 2004 mal